Stichwort der Psychologie: Kontinuitätsprinzip

Das Kontinuitätsprinzip als Kriterium zur Sorgerechtsregelung

 

Stichwort der Psychologie
Von Arta Konjusha (Psychologin M. Sc.)


Die Beständigkeit in der Betreuung und Erziehung ist insbesondere für jüngere Kinder wichtig, die trennungssensibel reagieren. Folgt man dem Kontinuitätsgrundsatz, so sind diejenigen förderlichen Erziehungsbedingungen zu erhalten, die auch vor der Trennung vorhanden waren


Einleitung

Das Kontinuitätsprinzip ist eines von mehreren Beurteilungskriterien bei der Regelung der elterlichen Sorge nach der Trennung von Elternteilen. Die Relevanz folgt der Annahme, dass ein Kind ein grundlegendes Bedürfnis danach hat, dass seine Lebensverhältnisse gleichbleibend und stabil sind und dass dadurch das Wohl des Kindes am ehesten geschützt werden kann. Dieser Kontinuitätsgedanke bezieht sich auf die drei Bereiche Betreuung und Erziehung, soziales Umfeld sowie räumliche Kontinuität.


Welche Bedeutung steckt hinter dem Begriff des Kontinuitätsprinzips?

,,Eine psychologische Begründung findet der Kontinuitätsgrundsatz darin, dass ein Kind schon die Trennung der Eltern und damit den Verlust der familiären Einheit als kritisches Lebensereignis zu bewältigen hat’’ (Dettenborn & Walter, 2015, S. 208). Wird das Kind durch Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen zusätzlich belastet, so kann es aufgrund komplexer Anforderungen zu Fehlanpassungen kommen.

Doch sind Veränderungen der Lebensverhältnisse immer eine Belastung? Dies hängt stark vom Einzelfall ab. Es umfasst neben äußeren Bedingungen, die von dem Umfeld beeinflusst werden, vor allem auch innere Bedingungen des Kindes. Zentral sind beispielsweise der Entwicklungsstand, das Alter sowie die psychische Verletzbarkeit des Kindes. Gleichzeitig kann der Kontinuitätsgrundsatz nicht isoliert betrachtet werden. Andere relevante Kriterien wie die Bindung und der Wille des Kindes sowie die Erziehungsfähigkeit der Elternteile spielen ebenfalls eine wichtige Rolle bei der Beurteilung und sind im Verhältnis zueinander abzuwägen.


Betreuung und Erziehung

Die Beständigkeit in der Betreuung und Erziehung ist insbesondere für jüngere Kinder wichtig, die trennungssensibel reagieren. Folgt man dem Kontinuitätsgrundsatz, so sind diejenigen förderlichen Erziehungsbedingungen zu erhalten, die auch vor der Trennung vorhanden waren. War ein Elternteil aufgrund der Berufstätigkeit des anderen Elternteils beispielsweise die hauptsächliche Betreuungs- und Erziehungsperson, so wäre dies auch nach der Trennung empfehlenswert. Die Kontinuität ist hier besonders wichtig, da sich in den ersten Lebensjahren die Bindung zu den Bezugspersonen entwickelt und festigt.

Durch den Verlust der Hauptbezugsperson könnte die Bindung irritiert werden, was sich negativ auf die Persönlichkeitsentwicklung auswirken kann. Die Art der Bindung beeinflusst nämlich, wie effektiv und mit welchen Folgen Emotionen beim Umgang mit Belastungen reguliert, wie eigene Emotionen verarbeitet und ausgedrückt werden können und wie davon ausgehend soziale Beziehungen gestaltet werden. Berücksichtigt werden muss hierbei, dass eine Trennung von Erwachsenen ebenfalls Anpassungsleistungen fordert und sich in diesem Zuge auch die Erziehungsbedingungen verändern können.

Darüber hinaus muss beachtet werden, wie und in welchem Umfang die Elternteile jeweils nach der Trennung zur Verfügung stehen. Die Bedeutung der Betreuungs- und Erziehungskontinuität nimmt mit zunehmendem Alter des Kindes ab. Aufgrund vermehrter Ablösungs- und Autonomieschritte in der Pubertät, bekommen soziale Gruppen eine neue Bedeutung und verändern damit die Fokusbildung des Kontinuitätsprinzips.


Soziales Umfeld

Je älter ein Kind wird, desto wichtiger werden Beziehungen zu gleichaltrigen oder erwachsenen Personen, die außerhalb der Familie angesiedelt sind. Diesem Umstand wird durch den Erhalt des sozialen Umfeldes Rechnung getragen. Wie bereits erläutert, kann die Trennung der Eltern für ein Kind ein kritisches Lebensereignis darstellen. Außerfamiliäre Beziehungen können als Schutz oder Stärkung verstanden werden, um dieses Ereignis zu bewältigen. Hier stellt sich die Frage danach, welcher Elternteil den Erhalt solcher Beziehungen eher sicherstellen kann. Ab dem dritten Lebensjahr finden Kinder zudem vermehrt Kontakte im Kindergarten, und später in der Schule und in Vereinen. Eine besonders große Bedeutung wird diesen sozialen Gruppen mit zunehmendem Alter, speziell in der Pubertät, zugeschrieben und muss daher Berücksichtigung finden.


Räumliches Umfeld

Der Erhalt des räumlichen Umfeldes bekommt ebenfalls einen hohen Stellenwert, da ein Wohnortwechsel eine erneute Bewältigungsanforderung bedeutet. Erwachsene und Kinder gewöhnen sich im Verlauf ihres Lebens auch an ihre sachlichen Güter und schöpfen daraus ein Gefühl von Geborgenheit. Der Verbleib an einem Ort führt außerdem zu der Herausbildung einer Ortsidentität und einer Integration in das Konzept, was eine Person von sich selbst hat. Zusammen wirken diese Umstände identitäts- und persönlichkeitsfördernd.

Es wird deutlich, dass eine Veränderung der Wohnung oder Wohnumgebung wieder eine Anpassung des Kindes verlangt. Merkmale wie die Unerwünschtheit der räumlichen Veränderung oder ein empfundener sozialer Abstieg zum Beispiel durch eine kleinere, schlechtere Wohnung haben wiederum Einfluss auf den Umgang mit dem Veränderungsprozess.


Bedeutung innerer Kontinuität durch sichere Bindung

Arta Konjusha: Das Kontinuitätsprinzip
Bindung und Kontinuitätsprinzip

Wie bereits dargestellt, wird angenommen, dass stabile Lebensverhältnisse das Kindeswohl nach einer Trennung der Eltern am ehesten schützen. Denn wenn Bindungspersonen wegfallen, ist dies für das Kind nur schwer versteh- und beeinflussbar. ,,Als emotionaler Kern intensiver sozialer Beziehungen sind Bindungen ein Grundthema menschlichen Miteinanders, nämlich das evolutionär entstandene Bedürfnis nach Nähe und ungehindertem Zugang zu einer Schutz und Unterstützung gewährenden Bezugsperson’’ (Dettenborn & Walter, 2015, S. 37). Unterschieden wird zwischen verschiedenen Arten beziehungsweise Qualitäten von Bindungen.

Die eigentliche Bindung wird in den ersten Lebensjahren aufgebaut und prägt mit der Entwicklung von Vertrauen die gesamte körperliche und geistige Entwicklung. Die Erfahrungen, die das Kind in seinen Beziehungen macht, verdichten sich in den ersten Lebensjahren hin zu einem sogenannten internen Arbeitsmodell und bilden somit den Aufbau einer psychischen Innenwelt (Entwicklung der psychischen Instanzen und der narzisstischen Regulation) ab. Beziehungserfahrungen können zum Beispiel sein, inwiefern das Kind seine Mutter als verfügbar wahrnimmt, also ob auf seine Signale bei Müdigkeit oder Hunger reagiert wird. Anhand dieser Erfahrungen kann eigenes Handeln geplant und das erwartete Verhalten von Bezugspersonen eingeschätzt werden.

Psychoanalytische Entwicklungsmodelle sprechen diesen frühkindlichen Entwicklungsprozessen eine große Bedeutung zu. Im Zuge dessen wird der Begriff des Introjekts verwendet. Introjekte sind als Repräsentanzen oder innere Bilder von Interaktionen und den beteiligten Personen zu verstehen. Sie entstehen durch eine Verinnerlichung der realen Beziehungserfahrungen, enthalten jedoch eigene intrapsychische Verarbeitungen.

Diese inneren Bilder von sich und anderen sind stabiler, je konsistenter das Verhalten von Bezugspersonen ist. Ein, von den Bezugspersonen ausgehendes, stabiles Verhalten fördert die Entwicklung einer sicheren Bindung. Charakteristisch ist hierbei, dass sich die Bindungspersonen dem Kind gegenüber stabil verfügbar und empathisch zeigen. Diese Eigenschaften wirken sich langfristig positiv auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes aus. Sie fördern die Stressresistenz und Angstreduzierung, führen zu ausgeglichener Emotionalität, einem realistischen Selbstbild und höherer sozialer Kompetenz.

Durch Veränderungen in den Personen oder Lebensbedingungen, zum Beispiel durch eine Trennung, kann sich die Bindungsqualität verändern. So zeigen Kinder aus Trennungsfamilien häufiger Anzeichen unsicherer Bindung, wahrscheinlich hervorgerufen durch das Erleben von elterlichen Konflikten und Instabilität. Stabile Betreuungsverhältnisse gestalten eher die Prognose sicherer Bindung. Ebenso wichtig ist die eben dargestellte innere Kontinuität, welche zu stabilen inneren Bildern von sich und anderen führt und damit am günstigsten für die weitere Persönlichkeitsentwicklung ist. Dem Kontinuitätsprinzip kommt damit auf mehrfache Art Bedeutung zu.


Welche Problembereiche entstehen bei der Bewertung der Kontinuität?

Im Verlauf einer Begutachtung können Widersprüche zu Tage treten, die der sorgfältigen Analyse bedürfen. So wäre anzunehmen, dass ein Kind in der Regel eine Bindung zu dem Elternteil aufbaut, der es betreut und es sich entsprechend wünscht, bei ihm zu leben. Widersprüche zwischen dem Wunsch des Kindes und dem Erhalt der Kontinuität lassen sich folgendermaßen erklären: Nicht die Betreuung an sich führt zu einer Bindung, sondern die Erziehungsfähigkeit und das Feinfühligkeitsverhalten des besagten Elternteils.

Ein Kind kann sich auch aufgrund von Übereinstimmungen in den Interessen oder einer Identifikation mit dem nicht-hauptsächlich Betreuenden stärker verbunden fühlen, auch wenn dieser Elternteil weniger zur Verfügung steht. Die Notwendigkeit zur sorgfältigen Überprüfung solcher Konstellationen ergibt sich, da derartige Widersprüche auf eingeschränkte Erziehungskompetenzen hinweisen können. Diese können beispielsweise aufgrund mangelnder Feinfühligkeit bei der Hauptbezugsperson entstehen oder auf eine Beeinflussung des Kindes durch den anderen Elternteil zurückgehen.


Fazit und Rechtsprechung

Insgesamt stellt das Kontinuitätsprinzip ein wichtiges Beurteilungskriterium dar, wenn es um die Regelung der elterlichen Sorge nach einer Trennung geht. Jedoch bleibt zu betonen, dass dieses Kriterium eines unter mehreren darstellt und im Verhältnis zu den anderen in dem konkreten Einzelfall abgewogen werden muss. So darf die Anwendung des Kontinuitätsprinzips nicht dazu führen, dass eine zwar äußerlich stabile, jedoch schädliche Entwicklung der Bindungserfahrungen fortgeführt wird und zukunftsgerichtete Aspekte des Kindeswohls missachtet werden. Beispielsweise würde eine Mutter, die hauptsächlich für die Erziehung und Betreuung des Kindes zuständig ist, ihre Erziehungsfähigkeit in Frage stellen, wenn sie das Kind vom Kindesvater fernhält.

Das Kontinuitätsprinzip hätte hier keine Vorrangberechtigung (OLG München, Beschluss vom 18. Juni 1991). Es findet hingegen besondere Berücksichtigung, wenn sich bei der Prüfung der Erziehungsfähigkeit eine gleichmäßige Eignung bei beiden Elternteilen ergibt. So ,,ist für eine Entscheidung über das Aufenthaltsbestimmungsrecht das Kontinuitätsprinzip ausschlaggebend’’ (OLG Köln, Beschluss vom 06. Juli 1999 – 25 UF 236/98). Einen noch zentraleren Stellenwert erhält das Kontinuitätsprinzip bei Entscheidungen von vorübergehender Dauer. Wenn keine Gründe des Kindeswohls dagegensprechen, soll das Kind bei dem Elternteil leben, welches es bis dahin überwiegend betreut hat. So wird versucht, einen Loyalitätskonflikt und eine Diskontinuität für das Kind zu verhindern, bis eine endgültige Entscheidung getroffen wird (OLG Köln, Beschluss vom 18. Februar 2010).


Literatur

Benecke, C. (2014): Klinische Psychologie und Psychotherapie. Ein integratives Lehrbuch. Stuttgart: Kohlhammer.

Dettenborn, H. & Walter, E. (2015): Familienrechtspsychologie. 2 Aufl. München: Ernst Reinhard.

OLG Köln (Beschluss vom 06. Juli 1999). Sorgerechtsregelung: Alleiniges Sorgerecht bei Zerstrittenheit der Erziehungsberechtigten; Bedeutung des Kontinuitätsprinzips für die Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts. 25 UF 236/98.

OLG Köln (Beschluss vom 18. Februar 2010). Einstweiliges Anordnungsverfahren in Familiensachen: Vorrang des Kontinuitätsprinzips bei einer vorläufigen Sorgerechtsregelung. 4 UF 7/10.

OLG München (Beschluss vom 18. Juni 1991). Elterliche Sorge bei Getrenntleben der Eltern: Beschränkte Anwendung des Prinzips der Erziehungskontinuität. 26 UF 1464/89.

 


Autorin

 

Arta Konjusha: Das Kontinuitätsprinzip
Arta Konjusha

Arta Konjusha hat Soziale Arbeit an der Fachhochschule Bielefeld studiert und dort mit Bachelor Anfang 2017 abgeschlossen. Sie studierte im Masterstudiengang Klinische Psychologie und Psychotherapie der Universität Kassel und hat dort mit Master abgeschlossen.

Nach einem Praktikum ist sie seit April 2019 als psychologische Mitarbeiterin in der psychotherapeutischen Praxis Ritter und Gerstner in Kassel tätig. Sie befindet sich in der tiefenpsychologischen und psychoanalytischen Ausbildung zur Psychotherapeutin.

 

 


Google-Bewertung

Eine Bitte: Google-Bewertung

Gefällt Ihnen dieser Beitrag? Unterstützen Sie die Tätigkeit unserer Praxis im Bereich Kindeswohl und Kinderschutz durch eine positive Rezension bei Google. Dies geht schnell und unkompliziert über folgenden Link. Besten Dank! Lesen Sie auch unseren Erfahrungsbericht zu unsachlichen Google-Bewertungen.